Frage 1: Niels, du hast gerade über Human Centric Finance und die wirtschaftlichen Aspekte von Organisationsgestaltung gesprochen. Wie hast du den Austausch empfunden?
Niels Pfläging: Ich fand den Austausch erfrischend und relevant. Wir haben über ein Thema gesprochen, das meiner Meinung nach in der heutigen Management- und Beratungslandschaft oft untergeht: der bewusste Fokus auf wirtschaftliche Aspekte innerhalb einer menschenzentrierten Perspektive. Es reicht nicht, Organisationen mit schönen Methoden wie Design Thinking oder mit Moderationsansätzen zu bespielen. Wir müssen den wirtschaftlichen Impact berücksichtigen und Organisationen so gestalten, dass sie wirtschaftlich tragfähig sind. Dass der von euch gewählte Begriff Human Centric Finance diesen Zusammenhang betont, zeigt, dass sich die Diskussion gerade langsam in die richtige Richtung entwickelt – hin zu einer nachhaltigeren und umfassenderen Betrachtung von Organisationsgestaltung.
Frage 2: Warum ist es für dich so wichtig, wirtschaftliche Aspekte mit menschenzentriertem Arbeiten zu verbinden?
Niels Pfläging: Menschenzentriertes Arbeiten und wirtschaftliche Verantwortung sind untrennbar miteinander verbunden. Viele Organisationen versuchen, ihre „Kultur“ zu verändern, indem sie sich vorrangig auf das Zwischenmenschliche konzentrieren. Sie ignorieren dabei oft, dass ihre Strukturen und Systeme Zusammenarbeit und wirtschaftliche Entscheidungen negativ beeinflussen. Das ist ein Fehler. Wenn wir Organisationen verbessern wollen, müssen wir uns auch von toxischen Konzepten wie fixierten Zielen, Bonussystemen oder zentralistischer Kontrolle verabschieden. Diese Praktiken fördern nicht nur ineffiziente Planwirtschaft in Organisationen, sondern sie ersticken auch Kreativität und Eigenverantwortung. Eine wirklich menschenzentrierte Organisation schafft es, wirtschaftliche und humanistische Aspekte in Einklang zu bringen, um letztlich eine nachhaltige Wertschöpfung zu erreichen.
Frage 3: Du sprichst oft von „toxischen Methoden“ und „menschenfeindlichen Philosophien“. Kannst du das näher erläutern?
Niels Pfläging: Ja, es gibt tatsächlich Methoden und Philosophien, die nicht nur ineffektiv, sondern auch grundsätzlich schädlich für Organisationen und Menschen sind. Beispiele dafür sind fixierte Ziele, Bonussysteme, Budgetierung oder auch Mitarbeiterbeurteilungen. Diese Werkzeuge basieren auf dem Theorie X-Menschenbild, das davon ausgeht, dass Menschen von Natur aus faul sind und nur durch Druck oder Anreize motiviert werden können. Das Problem liegt jedoch tiefer: In solchen Methoden stecken toxische Glaubenssätze, die Misstrauen, Kontrolle und Entmündigung in den Vordergrund stellen. Solche Ansätze vergiften Organisationssysteme und blockieren jede Form von echter Zusammenarbeit. Wir müssen daher nicht nur die Werkzeuge, sondern auch die dahinterliegenden Philosophien austreiben und solche Muster durch humanistische, aufgeklärte, betriebswirtschaftlich-wissenschaftlich fundierte Ansätze ersetzen. Das ist eine riesige Gestaltungsaufgabe für Manager und Eigentümer.
Frage 4: Welche Werkzeuge und Prinzipien empfiehlst du denn stattdessen?
Niels Pfläging: Ich plädiere für Werkzeuge und Prinzipien, die auf Einladung, Freiwilligkeit und Diskurs basieren. Ein gutes Beispiel ist der OpenSpace Beta-Ansatz, den Silke Hermann und ich 2018 entwickelt haben, um ganze Organisationen in wenigen Monaten hin zu konsequenter Dezentralisierung und Eigenverantwortung zu transformieren. Das Prinzip der Einladung spielt dabei eine zentrale Rolle: Statt Menschen zu zwingen, schaffen dieser Ansatz einen Raum, in denen sie sich engagieren und das System gemeinsam gestalten können: Sehr schnell und auf sehr disziplinierte Art und Weise. Das erzeugt eine völlig andere Qualität der Zusammenarbeit. Eine weitere Komplexithode ist die sogenannte Organisationshygiene, bei der schädliche Praktiken, Strukturen, Prozesse und Tools identifiziert und konsequent entfernt werden. Diese Konzepte fördern nicht nur Wertschöpfung, sondern schaffen auch ein System, in der Menschen wirklich wirksam zusammenarbeiten können.
Frage 5: : Was bedeutet für dich „Einladung“ in Organisationen, und warum ist sie so zentral?
Niels Pfläging: Einladung ist ein kraftvolles Prinzip, das sich grundlegend vom Zwang unterscheidet. Wenn ich jemanden einlade, gebe ich ihm die Freiheit zu entscheiden, ob er teilnehmen möchte, ohne dass negative Konsequenzen drohen. Das schafft nicht nur Vertrauen, sondern auch Verbindlichkeit: Wer eine Einladung annimmt, zeigt echtes Interesse und verpflichtet sich selbst zum Engagement. In Transformationsprozessen ist das entscheidend, weil es die Grundlage für freiwillige und authentische Trägerschaft bildet. Es geht nicht mehr darum, wie im Change Management, Menschen zu überreden, zu manipulieren oder zu zwingen, sondern ihnen die Möglichkeit zu geben, bewusst Ja zu sagen. Das ist der Schlüssel zu nachhaltiger Veränderung, die zügig vonstatten geht und bleibende Wirkung erzeugt.
Frage 6: Viele Unternehmen stoßen auf Widerstand, wenn sie sich transformieren wollen. Wie gehst du mit solchen Herausforderungen um?
Niels Pfläging: So genannter Widerstand ist fast immer ein Symptom dafür, dass die angewendeten Methoden nicht funktionieren. Wenn Menschen sich verweigern oder Transformationen scheitern, liegt das nicht an den Mitarbeitenden, sondern an den Konzepten, die genutzt wurden. Der OpenSpace Beta-Ansatz, wurde entwickelt, um die Entstehung von Widerstand gegen Veränderung grundsätzlich zu vermeiden. Er basiert darum auf Freiwilligkeit, Einladung und klaren „Time-Boxes“, die zusammen Transformationen in nur 90 Tagen ermöglichen. Egal, wie groß die Organisation ist. Das Besondere dabei ist, dass die Organisation die Veränderung selbst gestaltet, anstatt dass Führungskräfte oder gar Berater sie sozusagen aufzwingen. Dieser auf aktiver Trägerschaft beruhende Ansatz schafft ein Klima der Gestaltung im Miteinander-Füreinander und verhindert die üblichen Abwehrmechanismen. Folglich entsteht da auch kein Widerstand gegen Change.
Frage 7: Welche Rolle spielt für dich Human Centric Finance in der Organisationsgestaltung?
Niels Pfläging: Wir nennen den notwendigen Ansatz nur Neugestaltung von Performancesystemen Relative Ziele. Das ist ein entscheidender Ansatz, weil er zeigt, dass menschenzentrierte Ansätze und wirtschaftlicher Erfolg keine Gegensätze sind. Es gibt beispielsweise den Mythos, dass Transformationen zunächst Verluste erzeugen, bevor sie Gewinne bringen. Unsere Erfahrungen zeigen jedoch, dass Organisationen oft schon während des Transformationsprozesses, also schon während der gemeinsamen Arbeit am System, positive wirtschaftliche Effekte erzielen, einschließlich Verringerungen bei den Kosten. Die Verbindung zwischen Arbeit am System und wirtschaftlichem Erfolg ist nicht nur real, sondern die Systemüberwindung ist essenziell dafür, um Organisationen zukunftsfähig zu machen.
Frage 7: Gibt es eine Botschaft, die dir besonders wichtig ist?
Niels Pfläging: Klar. Meine wichtigste Botschaft ist vielleicht: Wir müssen Courage dafür aufbringen, Organisationen durch Arbeit am System zu verändern, statt uns auf oberflächliche Maßnahmen oder Arbeit am Menschen zu verlassen. Führungskräfte-Programme oder Design-Thinking-Sessions mögen zwar nützlich sein, aber sie reichen nicht aus, um Organisationen als Systeme zu transformieren. Unternehmen brauchen strukturelle Veränderungen, die sowohl psychologisch-soziologische, als auch kaufmännisch-wirtschaftliche Aspekte berücksichtigen. Nur so können wir Organisationen gestalten, die langfristig ökonomisch erfolgreich und gleichzeitig menschenwürdig sind.
Frage 9: Gibt es etwas, das du abschließend betonen möchtest?
Na ja, ich möchte schon dazu ermutigen, Veränderungsarbeit statt durch Zwang durch Einladung und Zusammenarbeit zu gestalten. Organisationen sollten darauf abzielen, Veränderungsprozesse so zu schaffen, dass Menschen sich ihrer Freiwilligkeit bewusst werden, Verantwortung übernehmen können und müssen, und letztlich ihre Potenziale entfalten können. Arbeit am System ist kein linearer Prozess, sondern ein gemeinsames Unterfangen, das zeitliche Disziplin (Time-Boxing), Zutrauen und die richtigen Prinzipien erfordert. Der Ansatz Relative Ziele bietet uns die Möglichkeit, den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen und gleichzeitig wirtschaftlich erfolgreich zu werden – und das ist eine Chance, die wir nutzen sollten.
Zu seiner Person:
Niels Pfläging ist ein international renommierter Vordenker im Bereich agiler Organisationen und Unternehmensführung. Als Forscher, Autor, Berater und Unternehmer setzt er sich für die Transformation traditionell gesteuerter Organisationen hin zu konsequent dynamischen und föderativen Strukturen ein. Mit der 2008 von ihm gegründeten Community BetaCodex Network, sowie mit seinen Unternehmen Red42 und qomenius bietet er Organisationen praxistaugliche Ansätze, um Komplexität erfolgreich zu meistern und Eigenverantwortung zu fördern. Niels ist Autor von 11 Büchern. Seine Bestseller Organisation für Komplexität und Komplexithoden (zusammen mit Silke Hermann) wurden zu Businessbuchklassikern. Seine Bücher wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt.
Abschluss:
Vielen Dank, Niels, für deine spannenden Einblicke.
VORSPRUNG Redaktion
Saveria Toscano
Wenn sich Unternehmen im Sinne einer Transformation wirklich tiefgreifend verändern wollen, braucht es ein neues Verständnis von Veränderung. Das bedeutet für uns:
Weniger Veränderung IM bestehenden Organisationssystem und mehr Veränderung AM Organisationssystem.
Weniger Planen, Kontrollieren und Steuern von Veränderung und mehr Raum für das Entstehen lassen von Veränderung.
Weniger einen statischen Zustand A in einen statischen Zustand B überführen und mehr Veränderung als natürlichen, niemals endenden Prozess sehen.
Wer diese Perspektiven einnimmt, fragt nicht mehr nach dem Ende der Transformation, sondern nach dem Ende des Stillstands.
Die schlechte Nachricht:
Transformation bedeutet entgegen der Spielregeln des bestehenden Systems zu handeln. Und das erfordert jede Menge Entschiedenheit, Mut und Vertrauen.
Die gute Nachricht:
Entschieden, mutig und vertrauensvoll neue Wege zu gehen fördert gleichzeitig Entschiedenheit, Mut und Vertrauen in der Organisation.
Ist Veränderung für dein Unternehmen ein notwendiges Übel oder Ausdruck der unternehmenseigenen Lebendigkeit?
Bist du bereit entschieden voranzuschreiten?
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