Auch hundert Fertigsuppen machen keinen Koch! Nach einigen Jahren, in denen viele Manager diverse Management-by-Kochrezepte ausprobiert haben und nach anfänglicher Euphorie die begrenzte Gültigkeit sowie die Unsinnigkeit solcher Vereinfachungen erkannt haben, ist es an der Zeit, ein neues, komplexeres Verständnis von Unternehmenskultur und Führungstraining zu entwickeln. (Bernd Schmid, isb)
Einleitung
In den ersten beiden Blogartikeln gab es einen Einblick in die wunderbare Welt der unzählbaren Kompetenzen: wie sie als Anforderung in der Berufswelt entstanden sind und welche erweiterten Kompetenzen wir heute für mutiges, zukunftsorientiertes Handeln brauchen. Danach folgte ein Einblick in die „Achtsamkeit“ als Basiskompetenz der Zukunftskompetenzen (RKW Kompetenzzentrum Eschborn). Heute widmen wir uns der Komplexitätskompetenz, bevor wir in den nächsten Artikeln die Kontakt- und Beziehungs-, Paradoxie-, Generative und Emotionskompetenz näher betrachten.
Seit den 1970er Jahren ist der Begriff Komplexität im Wirtschaftsleben immer präsenter geworden. Heute ist er nicht mehr wegzudenken, wird jedoch häufig mit Kompliziertheit verwechselt. Warum also brauchen wir jetzt die Komplexitätskompetenz?
Ein Blick zurück
- 1765: Spinning Jenny, die erste Spinnmaschine von James Hargreaves.
- 1769: Patent für die Dampfmaschine von James Watt.
- 1783/84: Erste vollmechanische Baumwollspinnerei auf dem europäischen Festland in Ratingen (heute Metropolregion Rhein-Ruhr), gegründet von Johann Gottfried Brögelmann – heute ein hochinteressantes Industriemuseum!
- 1902: Erstes Fließband für die Autoproduktion von Oldsmobile durch Ransom Eli Olds.
- 1914: Erstes Fließband für die Autoproduktion von Henry Ford („Sie können Autos in allen Farben bestellen, Hauptsache, sie sind schwarz“) – Beginn der Massenproduktion und des Massenkonsums.
- 1911 ff: Taylorismus (vertikale Trennung von Denken und Handeln) und Fordismus (horizontale, minutiöse Herunterbrechung von Arbeitsschritten im Produktionsprozess) nehmen Einfluss auf die Industriearbeit, basierend auf einem mechanistischen Menschenbild.
Folgen
Es ist nicht mehr das Können der Meister und Mitarbeiter in den industriellen Manufakturen gefragt, sondern das Wissen der Ingenieure. Arbeitsschritte und -prozesse werden in kleinste berechenbare Einheiten heruntergebrochen. Tausende ungebildete und unausgebildete Menschen können in kürzester Zeit angelernt werden und finden Arbeit. Transporte werden durch technische Innovationen (Dampfmaschine, Bahn usw.) günstiger und erreichen mehr Märkte, die mit der Massenproduktion bedient werden können. Der Wohlstand für alle steigt (verbunden mit unzähligen Arbeitskämpfen).
Alle unternehmerischen Weiterentwicklungen konzentrieren sich auf Kosten-, Zeit- und Materialersparnis. Das Management steuert und kontrolliert. Der Mensch zählt, verbunden mit dem mechanistischen Menschenbild, als Ressource, die während der Arbeitszeit an das Unternehmen abgetreten wird, um die in der Stellenbeschreibung geforderten Leistungen zu erbringen. Menschenwürde ist für die Freizeit vorgesehen, dafür gibt es Lohn und Gehalt; Konsum tröstet den Schmerz.
Seit den 1960er Jahren begleiten Unternehmensberatungen die Unternehmen hauptsächlich als Effizienztreiber, mit immer größeren Exceltabellen. Doch jetzt ist das Spiel mit der „ausgequetschten Zitrone“ bei allen wirtschaftlichen Erfolgen an seine Grenzen gestoßen.
„Unternehmen lassen täglich Chancen liegen, wenn sie den Menschen nicht als zentrale Quelle der Wertschöpfung betrachten. Es ist höchste Zeit, sich der höchsten Kunst zu widmen: Uns selbst. The Business of Business is People!“ (VORSPRUNGatwork)
Gesättigte Märkte und andere Spielverderber
Ende der 1970er Jahre beginnt sich das Spiel zu ändern. Träge lokale, regionale und globale Märkte sind mit Massenprodukten gesättigt. Der Konkurrenzdruck steigt. Gleichzeitig entstehen unterschiedliche Management-, Führungskräfteentwicklungs- und Motivationsprogramme, da offensichtlich wird, dass der Mensch keine Maschine ist. Er muss mit anderen Mitteln bei Laune gehalten werden. Schul- und Berufsausbildung sowie universitäre Studiengänge führen zu besser ausgebildeten Menschen in den Unternehmen, die nicht mehr nur als Ressource verwaltet werden wollen. Sie suchen im Berufsleben nach einer besseren Balance zwischen persönlicher Potenzialentfaltung/persönlichem Sinn und dem Organisationszweck.
Der Wechsel vom Industrie- zum Wissens- und Informationszeitalter hat unwiderruflich begonnen. Die Digitalisierung startet. Individualisierte Kundenwünsche wachsen – Losgrößen in der Produktion sinken bis auf Losgröße 1. VUCA und BANI werden in aller Munde und stören das Management. Märkte sind nicht mehr träge, sondern dynamisch.
„Mensch als harte Währung: Was vermeintlich als weich gilt, ist die harte Währung der Zukunft.“ (VORSPRUNGatwork)
Komplexität im Blick haben und nicht mit Kompliziertheit verwechseln
Ein aktuelles Beispiel (ZEIT Nr. 30 vom 11.07.24, Bröselbrückenland): Vor drei Jahren wurde die 453m lange Autobahnbrücke an der A45 gesperrt. Vielleicht wird die neue Brücke 2026 fertig sein. Die Sprengung war ein Meisterwerk, das Vorhaben kompliziert:
- 17000t Stahl und Beton bis zu 70m über der Talsohle
- 2035 Sprengladungen, 150kg Sprengstoff in 50 bis 210 Gramm Einheiten
- 1km Zündkabel, Überseecontainer gefüllt mit Wasser und Sand zum Schutz gegen Schallwellen
- 100.000 Kubikmeter Auffangmaterial
Alle wenn-dann Möglichkeiten wurden mit dem Computer genau berechnet, die Brücke fällt wie berechnet. Eine Umleitung wurde eingerichtet.
Drei Jahre später:
Die Umleitung besteht noch immer, aber viele Konsequenzen ließen sich nicht einfach berechnen. Das ist komplex:
- In der Region sind ca. 150 metallverarbeitende Betriebe und mittelständische Weltmarktführer angesiedelt, abhängig von LKW-Transporten.
- Durch die vielen Staus verlängern sich die An- und Abfahrten der Beschäftigten um 1 bis 1,5 Stunden. Viele kündigen und suchen neue Arbeitsplätze in anderen Städten.
- LKWs suchen Wege außerhalb der offiziellen Umleitungen, was weitere Brücken überlastet und beschädigt.
- Die Begrenzung der Lenkzeiten führt zu mehr Personal- und Kostenaufwand.
- Sanierungsaufwand für Straßen und Brücken erhöht sich.
- Handwerker und Pflegedienste kommen nicht zu Kunden und Patienten.
- Nebenstraßen sind überlastet, Sorgen um zerdrückte Wasser- und Gasleitungen entstehen.
Diese Situationen zeigen, wie gut geplante, komplizierte Vorgänge zu komplexen und unüberschaubaren Konsequenzen führen können, die nicht mit einfachen Lösungen beherrschbar sind.
Ein kleines Glossar, um Komplexität zu verstehen
Niels Pfläging und Silke Hermann beschreiben in ihrem Büchlein „Komplexithoden“ den Unterschied zwischen Kompliziertheit als das Maß unserer Unwissenheit (blau) und Komplexität als das Maß für die Menge der Überraschungen (rot).
Blau und Rot:
- Kompliziert: formal, fixiert, Wiederholung, Standard, Prozesse, Routine, Weisung, Bürokratie, Management, zentral, Manager-Macht.
- Komplex: dynamisch, Überraschung, Könner, Kommunikation, Dialog, Mensch und Abläufe integrieren, Gruppendruck, Leadership, dezentral, temporär, Markt-Macht.
„Das schärfste Schwert der Gegenwart ist das Bewusstsein. Wir sind die einzige Spezies auf dem Planeten, der es geschenkt ist, sich selbst beobachten zu können.“ (VORSPRUNGatwork)
Bestandteile der Komplexitätskompetenz
Eine wertschöpfende Komplexitätskompetenz beginnt mit der Unterscheidung zwischen kompliziert und komplex. Viele Führungskräfte benutzen beide Begriffe ohne Unterscheidung. Für komplizierte Sachverhalte brauche ich das passende Wissen, wie Bedienungsanleitungen oder Prozessbeschreibungen. Experten mit überlegenem Wissen können zur Lösung beitragen.
Für komplexe Sachverhalte gibt es keine Bedienungsanleitungen. Es braucht Können, das in der Regel keine Einzelperson leisten kann. Deshalb braucht es andere Rahmenbedingungen. Wer Impulse vom Kunden oder Markt aufnimmt, muss schneller als über alte hierarchische Strukturen und begrenzte Abteilungssilos die „Könner“ und Entscheider um sich scharen können, um anstehende Probleme zu lösen.
Diese Anforderungen können komplizierte Prozesse mit bekannten Mitteln sein oder komplexe Anforderungen, die iterativ angegangen werden. Dabei können korrigierende Irrtümer entstehen. In klassischen Unternehmensstrukturen werden alle Beteiligten, insbesondere Führungskräfte, dies vermeiden, um ihre Karriere oder ihren Bonus nicht zu gefährden.
Mit Komplexitätskompetenz ausgestattete Führungskräfte und Mitarbeitende arbeiten mit dynamischen Führungsrollen an der Lösung des Problems. Nach außen hat die formale Führungskraft die Verantwortung, nach innen wechselt die Verantwortung je nach Expertise der Beteiligten. Mensch-zu-Mensch-Beziehungen werden so organisiert, dass jede/r werthaltig beitragen kann. Dazu braucht es weitere Kompetenzen wie in der Einleitung beschrieben.
„Moderne Organisationen setzen auf die Verantwortlichkeit des aufgeklärten Menschen und haben starre Strukturen ins Museum verbannt.“ (VORSPRUNGatwork)
Ausblick
Die Welt ist im Wandel und somit auch jede Organisation und die darin arbeitenden Menschen. Du als Führungskraft, HR-Verantwortlicher, Coach oder Berater baust gerade neue Kompetenzmodelle, Organisationsdesigns, Führungskräfteentwicklungsprogramme oder andere Personalentwicklungsinstrumente für dein Unternehmen?
In dieser Beitrag Serie beschreibe ich die erwähnten „Kompetenzen der Zukunft“ im Einzelnen näher und mache sie mit erlebten Praxisbeispielen aus unseren Befähigungsformaten und Projekten greifbar.
Quellen:
Erpenbeck, J. (2012). Kompetenz. Festschrift Prof. Dr. John Erpenbeck zum 70. Geburtstag (W. G. Faix, Hrsg.; Bd. 4). Steinbeis School of International Business and Entrepreneurship GmbH.
Herling, S. (2022). Kompetenzen der Zukunft (RKW Kompetenzzentrum, Hrsg.; Heft 1-6). RKW Rationalisierungs- und Innovationszentrum der Deutschen Wirtschaft e. V.
Pfläging, N., & Hermann, S. (2015). Komplexithoden: Clevere Wege zur (Wieder)Belebung von Unternehmen und Arbeit in Komplexität. Redline Verlag.
Wohland, G., & Wiemeyer, M. (2012). Denkwerkzeuge der Höchstleister: Warum dynamikrobuste Unternehmen Marktdruck erzeugen. UNIBUCH.
Autoren der Wikimedia-Projekte. (2003, 13. Juli). Kompetenz – Wikipedia. Wikipedia – Die freie Enzyklopädie. https://de.wikipedia.org/wiki/Kompetenz
Bert Kruska
VORSPRINGER & Transformationscoach
Wer lebt - stört.
Wenn sich Unternehmen im Sinne einer Transformation wirklich tiefgreifend verändern wollen, braucht es ein neues Verständnis von Veränderung. Das bedeutet für uns:
Weniger Veränderung IM bestehenden Organisationssystem und mehr Veränderung AM Organisationssystem.
Weniger Planen, Kontrollieren und Steuern von Veränderung und mehr Raum für das Entstehen lassen von Veränderung.
Weniger einen statischen Zustand A in einen statischen Zustand B überführen und mehr Veränderung als natürlichen, niemals endenden Prozess sehen.
Wer diese Perspektiven einnimmt, fragt nicht mehr nach dem Ende der Transformation, sondern nach dem Ende des Stillstands.
Die schlechte Nachricht:
Transformation bedeutet entgegen der Spielregeln des bestehenden Systems zu handeln. Und das erfordert jede Menge Entschiedenheit, Mut und Vertrauen.
Die gute Nachricht:
Entschieden, mutig und vertrauensvoll neue Wege zu gehen fördert gleichzeitig Entschiedenheit, Mut und Vertrauen in der Organisation.
Ist Veränderung für dein Unternehmen ein notwendiges Übel oder Ausdruck der unternehmenseigenen Lebendigkeit?
Bist du bereit entschieden voranzuschreiten?
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