Eine kleine Reise vom „mittelalterlichen Competitor“ über den „qualifizierten Verrichter“ zum „transformationsfähigen Potenzialentfalter“
Einleitung
Begriffe, von denen wir glauben genau zu wissen, was sie meinen, werden schnell zu Fallstricken. Der Begriff KOMPETENZ gehört dazu. In der Literatur finden wir über 850 Kompetenzen aus unterschiedlichsten Quellen. Gleichzeitig brauchen wir im organisationalen Kontext ein gemeinsames Verständnis über auszufüllende Rollen und die damit verbundenen Aufgaben, wenn Unternehmen heute und auch morgen erfolgreich agieren wollen – und das in einer Welt, deren Komplexität durch Herausforderungen wie Globalisierung, Digitalisierung, Corona, Kriege, Klimakrise oder Fluchtbewegungen ständig zunimmt.
Dieser Artikel eröffnet eine Blogreihe und verbindet theoretische Grundlagen zum Thema Kompetenzen mit neun Jahren praktischer Erfahrung von VORSPRUNGatwork mit Unternehmen, die sich dem Thema Transformation in unterschiedlicher Tiefe stellen.
Was also macht Kompetenz in der heutigen Zeit aus?
Anforderungen an Kompetenzen
Wenn über Kompetenzen gesprochen wird, geht es in der breiteren Bildungsdiskussion um die Verbindung von Wissen und Können, um unterschiedlichste Denk- und Handlungsanforderungen bewältigen zu können, aktuell gefordertes Handeln neu zu generieren, und außerhalb von Routinen Anforderungen und Situationen zu bewältigen (in Anlehnung an BBiG).
Vor der Industrialisierung wurde das Wissen und Können innerhalb der Handwerkszünfte vom Meister an die Schüler und Gesellen weitergegeben.
In den Zeiten der Massenproduktion reichte es, Arbeiter zur Verrichtung kleinteiliger Aufgaben anzulernen. Schritt für Schritt stellte sich heraus, dass das zugrundeliegende mechanistische Menschenbild zu kurz griff. Typisch dafür ist die Aussage, die Henry Ford zugeschrieben wird “Warum ist es so, dass jedes Mal, wenn ich um ein Paar Hände bitte, diese mit einem Gehirn daherkommen?“. Menschen sind keine Maschinen und wollen auch nicht so behandelt werden.
Die Führungsebenen in der Spitze bedienten über Jahrhunderte das Prinzip „natural born leader“, dessen Ausläufe noch heute im Sinne des „Herrschens und Anweisens“ fortleben.
Insbesondere in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wuchs die Erkenntnis, dass es mehr braucht, um im wachsenden Wettbewerb bestehen zu können. Es folgten Max Weber mit autokratischem, charismatischem und bürokratischem Führungsstil, dann Lewin mit autoritär, kooperativ bis laissez-faire, Blake and Moulton mit Mitarbeiter- oder Aufgabenorientierung.
Schließlich in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts Peter Drucker mit transaktionaler Führung (MbO). Aktuell geht es um agile Führung, Servant Leadership oder Shared Leadership.
Kurzum, die Anforderungen an alle Mitarbeitenden und Führungskräfte wuchsen und damit die Ausdifferenzierung personifizierter Kompetenzen. Lernen und Bildung war kein individuelles und privates Thema mehr, sondern die Vorbereitung auf möglichst gute Chancen einen qualifizierten Beruf zu ergreifen und dann Karriere zu machen.
Damit stieg auch die Anforderung, strukturell und institutionell Rahmenbedingungen zu schaffen, die die erforderlichen Qualifizierungen ermöglichten.
Durch entsprechende Gesetze und Normen sind bis heute die Rahmenbedingungen gesetzt. Berufsschulen, Hochschulen, private Bildungseinrichtungen, Bildungsgesetze, Schulgesetze (siehe auch die „Leidensberichte“ zu PISA) weisen auf unterschiedlichste Art je kleinere und größere Kompetenzkataloge vor.
Also alles in Ordnung?
Seit den 70er Jahren ist mit dem Beginn des Informationszeitalters bis hin zur heutigen Sofortverfügbarkeit fast allen Wissens und dem fulminanten Start der KI sehr viel in Bewegung geraten.
Neben den meist linearen Prozessen der Massenproduktion, die mit Planbarkeit bedient werden konnten, ist durch Sättigung von Märkten, schnellere Produktentwicklungszyklen, höhere Kundenanforderungen, Krisen wie Krieg, Corona, Klima, Globalisierung und Digitalisierung ein Maß an Komplexität erreicht, dem mit gängigen Managementmethoden und dem entsprechenden BWL-Vokabular (Standards, Best Practice, etc.) nicht mehr zu Genüge begegnet werden kann.
Wie also gehen wir mit den Kompetenzanforderungen für morgen um?
- Führung, die nicht mehr nur von oben nach unten, sondern auch von innen nach außen verläuft?
- Management-Skills für all das, was linear und erwartbar ist. Leadership-Skills für komplexe, ergebnisoffene Herausforderungen
- Entscheidungen, die nicht das Resultat unreflektierter Befehlsketten, sondern dynamisch kommunizierender Netzwerke sind
- Zusammenarbeit, die sich aus den geschützten Silos befreien und bereichsübergreifende Kooperationen eingehen kann?
Viele Unternehmer und Unternehmen sind aufgewacht und haben bereits erkannt, dass ein Mehr vom Bisherigen nicht zielführend ist. Stellenbeschreibungen und die darin enthaltenen Ansprüche an potenzielle Mitarbeitende grenzen schließlich schon jetzt an Utopie.
Viele schlafen noch und wiegen sich in der Sicherheit, dass es doch 150 Jahre gut gegangen ist. Vor allem, wenn neue Wege mit dem Risiko einhergehen, dass der eigene lukrative Vertrag nicht verlängert wird.
In Anlehnung an die Werbung eines bekannten Möbelhauses: Schläfst du noch oder erweiterst du schon deine Kompetenzen?
Kompetenzen – heute und morgen
Die klassische Handlungskompetenz hat ihren Wert nicht verloren. Sie setzt sich zusammen aus Persönlichkeits- (P), Sozial- (S), Fach- (F) und Methodenkompetenz (M). Je nach Quelle werden sie etwas unterschiedlich beschrieben und subsumieren weitere Kompetenzen und/oder Schlüsselqualifikationen (auch hier gibt es Unterschiede je nach Autor), einige Beispiele:
- P: Leistungsbereitschaft, Motivation, Selbstvertrauen
- S:Kommunikationsverhalten, Konfliktverhalten, Kooperationsverhalten
- F: Sachkenntnisse, Kundenkenntnisse
- M: Prozesskenntnisse, Organisationskenntnisse
Etliche Jahrzehnte haben diese Kompetenzen ausgereicht.
Das RKW Kompetenzzentrum in Eschborn hat eine praxisnahe Publikation zu den „Kompetenzen der Zukunft“ veröffentlicht, die die Erkenntnisse namhafter Autoren aus den letzten 20 Jahren zusammenfasst.
Es handelt sich um 5+1 Metakompetenzen, die unser bisheriges Wissen und Können erweitern, und in unterschiedlicher Dichte und Tiefe in der Unternehmenswelt gebraucht werden.
Basiskompetenz ist Achtsamkeit, welche wir zur Schärfung unserer Wahrnehmung brauchen. Durch Achtsamkeit können wir handlungsrelevante Informationen erfassen, Automatismen im Handeln und Urteilen erkennen und überhaupt erst Zugang zu den Kompetenzen der Zukunft erlangen.
Komplexitätskompetenz: unterstützt uns beim Planen, Arbeiten und Organisieren sowie beim Erkennen unterschiedlicher Perspektiven
Kontakt- und Beziehungskompetenz: umfassender als in der bisherigen Sozialkompetenz, ermöglicht sie echte Zusammenarbeit, eine tragende Kultur unter hoher Leistungsfähigkeit
Paradoxiekompetenz: für echte Entscheidungen in widersprüchlichen Situationen, bei der Regulierung von Konflikten und Gestaltung von Rahmenbedingungen in Unternehmen
Generative Kompetenz: Schaffung von Räumen für Innovation und Veränderung
Emotionale Kompetenz: sorgt für psychologische Sicherheit, trägt zu Selbstführung und Resilienz bei
Ausblick
Die Welt ist im Wandel und somit auch jede Organisation und die darin arbeitenden Menschen. Du als Führungskraft, HR-Verantwortlicher, Coach oder Berater baust gerade neue Kompetenzmodelle, Organisationsdesigns, Führungskräfteentwicklungsprogramme oder andere Personalentwicklungsinstrumente für dein Unternehmen?
In den folgenden Beiträgen werde ich die erwähnten „Kompetenzen der Zukunft“ im Einzelnen näher beschreiben und mit erlebten Praxisbeispielen aus unseren Befähigungsformaten und Projekten greifbar machen.
Quellen:
Erpenbeck, J. (2012). Kompetenz. Festschrift Prof. Dr. John Erpenbeck zum 70. Geburtstag (W. G. Faix, Hrsg.; Bd. 4). Steinbeis School of International Business and Entrepreneurship GmbH.
Herling, S. (2022). Kompetenzen der Zukunft (RKW Kompetenzzentrum, Hrsg.; Heft 1-6). RKW Rationalisierungs- und Innovationszentrum der Deutschen Wirtschaft e. V.
Pfläging, N., & Hermann, S. (2015). Komplexithoden: Clevere Wege zur (Wieder)Belebung von Unternehmen und Arbeit in Komplexität. Redline Verlag.
Wohland, G., & Wiemeyer, M. (2012). Denkwerkzeuge der Höchstleister: Warum dynamikrobuste Unternehmen Marktdruck erzeugen. UNIBUCH.
Autoren der Wikimedia-Projekte. (2003, 13. Juli). Kompetenz – Wikipedia. Wikipedia – Die freie Enzyklopädie. https://de.wikipedia.org/wiki/Kompetenz
Bert Kruska
VORSPRINGER & Transformationscoach
Wer lebt - stört.