Organisationen bestehen nicht aus Menschen – und doch sind es Menschen, die Organisationen formen, um für andere Menschen Wert zu schaffen. Warum ist das kein Widerspruch? Als ich in den 70er Jahren meine Ausbildung bei einer Großbank begann, wurde ich nach einer Woche in der Mittagspause darauf hingewiesen, mir endlich eine Krawatte zu kaufen, weil ich der einzige Mitarbeiter ohne Krawatte war. Aus stillem Protest legte ich mir eine sehr hässliche zu, die nicht zum Anzug passte. Die Reaktion? Ein strahlender Blick, denn ich trug nun eine Krawatte.
Dieses einfache Beispiel zeigt: Jede Organisation hat geschriebene und ungeschriebene Regeln, Glaubenssätze und Prozesse, die unabhängig von den Menschen existieren. Wichtig ist, dass alle sich an diese Konventionen halten. Gleichzeitig sind es aber die Menschen, die in Organisationen zusammenkommen, um gemeinsam Aufgaben zu lösen, die dem Nutzen anderer dienen sollen. Und viele von uns haben hoffentlich schon erlebt, dass es einen Unterschied macht, einen Unterschied zu machen.
„Effektive Organisationen erkennen, dass die wertvollsten Ressourcen die Menschen sind, die für sie arbeiten.“ – VORSPRUNGatwork
Einleitung
Dies ist der vierte Blogartikel in einer Serie. Zuerst gab es einen Einblick in die faszinierende Welt der Kompetenzen: wie sie als Anforderungen in der Berufswelt entstanden sind und welche erweiterten Fähigkeiten wir heute für mutiges, zukunftsorientiertes Handeln benötigen. Dann folgte ein Blick auf „Achtsamkeit“ als Basiskompetenz der Zukunft (RKW Kompetenzzentrum Eschborn) und eine Einführung in die weiteren Kompetenzen: Komplexitäts-, Kontakt- und Beziehungs-, Paradoxie-, Generative- und Emotionskompetenz. Im letzten Artikel ging es um die Komplexitätskompetenz; heute widmen wir uns der Kontakt- und Beziehungskompetenz.
Seit der Einführung bekannter Kompetenzmodelle (siehe vorherige Blogartikel) gilt die Sozialkompetenz als Schlüssel für Kommunikationsfähigkeit, Einfühlungsvermögen und Konfliktfähigkeit. Ein Blick auf Aus- und Weiterbildungsprogramme der letzten Jahrzehnte zeigt jedoch, dass es oft um Konditionierung für angepasstes Verhalten in Organisationen ging. Wie fördere ich meine eigene Karriere in Hierarchien und Abteilungen, ohne unangenehm aufzufallen? Wie erfülle ich die Bedingungen einer tayloristisch geprägten Organisation?
Welchen Nutzen haben Unternehmen UND Mitarbeitende, wenn sich alle mit einer erweiterten Kontakt- und Beziehungskompetenz beschäftigen?
Erlebte Kontaktkompetenz
Ein produzierender Konzern möchte Qualitätsverluste zwischen Presswerk und Rohbau reduzieren. Beide Bereiche arbeiten streng voneinander getrennt. Der Übergabeprozess ist klar beschrieben: Die Abgabe erfolgt vom Presswerk bis zum Übergabepunkt, die Annahme durch den Rohbau ab dem Übernahmepunkt. Reibungspunkte sind vorprogrammiert, da es an der Schnittstelle keine Abstimmung gibt. Fehler werden gegenseitig vorgehalten.
In einem begleiteten Projekt sitzen Beteiligte beider Bereiche und unterschiedlicher Hierarchiestufen erstmals gemeinsam in einem Raum und hören sich aufmerksam zu, wie die Übergabe- und Übernahmeprozesse im Alltag erlebt werden. Dabei stellt sich heraus, dass zwei Schlüsselpersonen nur 20 Meter voneinander entfernt in verschiedenen Fluren sitzen, aber nur per E-Mail im Rahmen der Prozesse kommunizieren. Ein zukünftiger gemeinsamer Kaffee wird die Qualität der Zusammenarbeit verbessern.
Im Vertrieb gibt es das geflügelte Wort: “Ohne Kontakte keine Kontrakte.” Dies lässt sich auch auf andere organisationale Verhältnisse übertragen. Die zunehmende Komplexität macht eines immer deutlicher: Es geht nicht nur darum, den Arbeitsplatz menschlicher zu gestalten, damit jeder mit jederm spricht und sich alle wohlfühlen. Es ist viel dringlicher: Wenn wir die Aufgaben der Zukunft bewältigen wollen, sind Organisationen immer mehr darauf angewiesen, dass alle Mitarbeitenden ihr Potenzial einbringen, um den Organisationszweck in bester Qualität zu erfüllen. Dazu gehört, dass alle an einer Problemstellung beteiligten Personen jederzeit Kontakt miteinander aufnehmen können – unabhängig von formalen oder informellen Gesetzen, hierarchischen Ansprüchen oder Silodenken. Alles andere ist Verschwendung.
Am Ende des oben beschriebenen Projekts wurde beschlossen, über einen Zeitraum von drei Monaten wöchentliche kurze Teammeetings zur Verbesserung der Schnittstellen durchzuführen.
Erlebte Beziehungskompetenz
Bei der Vorbereitung von Teamtagen tauchen im Gespräch mit Führungskräften immer wieder ähnliche Fragen auf:
- Zwei Teammitglieder verstehen sich nicht gut. Wie kann ich darauf einwirken?
- Beim letzten Teamevent wollte eine Person nicht mitmachen. Was soll ich tun?
- Person A hat an einer Aufgabe keine Freude, Person B hätte sie gerne, aber es gehört nicht zur Stellenbeschreibung. Wie gehe ich damit um?
- Ich habe die Führungsaufgabe neu übernommen. Wie baue ich eine gute Beziehung zum Team auf?
- Bei uns steht eine Umstrukturierung an. Wie sage ich es den Betroffenen?
Es wäre anmaßend und übergriffig, für jede dieser Fragen einfache Lösungen zu präsentieren, ohne den genauen Kontext zu kennen. Dennoch lassen sich einige generische Schlussfolgerungen zur Beziehungskompetenz ziehen.
Schädlich sind oberflächliche, psychologisierende Interventionen, die darauf abzielen, dass sich einzelne Personen so verhalten sollen, dass das Betriebsklima „stimmt“ – ein beliebter Ansatz bei Coachings zur Sozialkompetenz. Nützlich hingegen ist eine Orientierung an den Quadranten Wollen/Können/Dürfen/Müssen. Mit diesen vier Aspekten kann die Qualität von Beziehungen aktiv gestaltet werden.
Das „Dürfen“ und „Müssen“ drücken die organisationale Seite der Arbeitsbeziehung aus: Worin liegt die Verantwortlichkeit einer Rolle? Wie und mit welchen Mitteln ist sie durchführbar und auszufüllen?
Das „Wollen“ und „Können“ drücken die individuelle Seite der Arbeitsbeziehung aus: Welche Bedürfnisse hat jemand? Welche Talente und Fähigkeiten bringt die Person mit, um Verantwortung für ihre Aufgaben zu übernehmen?
„Menschen im Unternehmen brauchen keine Tischkicker oder New-Work-Spielchen, sondern klare Orientierung. Eine vollständige Unternehmensidentität und widerspruchsfreie Entscheidungsprämissen sind selten, was es den Menschen schwer macht, sich zu orientieren!” – VORSPRUNGatwork
Je mehr Bereitschaft eine Führungskraft zeigt, mit den Mitarbeitenden auszuhandeln, wie die bestmögliche Schnittmenge zwischen persönlichem Potenzial und dem Organisationszweck erreicht werden kann, desto vertrauensvoller wird die Beziehung wachsen. Die Bewertung der Arbeitsbeziehung sollte nicht davon abhängig gemacht werden, wie sehr sich Menschen auch privat öffnen. Respekt vor unterschiedlichen Bedürfnissen ist wesentlich wertvoller. Dennoch ist es natürlich aus einer rein menschlichen Perspektive erfreulich, wenn ein soziales Miteinander kollegial gelebt werden kann.
Ein weiterer Orientierungspunkt für die Beziehungskompetenz ist die Durchführung formaler Mitarbeitergespräche. Führungskräfte, die im Alltag regelmäßig kurze, beziehungspflegende Gespräche mit allen Mitarbeitenden führen, finden in den Mitarbeitergesprächen eine wertvolle Gelegenheit, fokussiertes Feedback zu geben und zu erhalten sowie Fördermöglichkeiten zu besprechen. Führungskräfte, die keine Beziehung zu ihren Mitarbeitenden pflegen und Mitarbeitergespräche lediglich als Pflichtübung abhaken, werden nie erfahren, wer die Menschen wirklich sind, die jeden Tag auf dem Flur erscheinen.
Alles eine Frage der Übung
Hier ein Angebot, die Kontakt- und Beziehungskompetenz zu stärken:
Die in dem Beispiel genannten Aspekte zu „Dürfen“ und „Müssen“ sind in der Regel weitgehend in Stellenbeschreibungen und Arbeitsverträgen vorgegeben. Aufwändiger ist es, die Komponenten „Wollen“ und „Können“ wahrzunehmen, zu verstehen und einzuordnen.
Die Bindungsforschung und die Neurowissenschaften beschreiben vier Grundbedürfnisse in jeweils entgegengesetzten Polen:
- Entwicklung: Wachstum und Stabilität
- Bindung: Nähe und Distanz
- Selbstwert: Einzigartigkeit und Zugehörigkeit
- Selbstbestimmung: Freiheit und Sicherheit
Schritt 1:
Beobachte dich selbst und finde heraus, welche Bedürfnisse du hast und wie du sie in deiner Rolle lebst. Welches Verhalten leitet sich daraus ab und welche Wirkung hat es auf dich, deine Mitarbeitenden, die „Kunden“ und den Organisationszweck?
Schritt 2:
Beobachte die Bedürfnisse deiner Mitarbeitenden. Tritt ggfs. in einen offenen, konstruktiven Austausch. Wer sucht z.B. mehr Stabilität, wer mehr Wachstum? Wer mehr Freiheit, wer mehr Sicherheit? Welche organisationalen Möglichkeiten gibt es, um im Spannungsfeld zwischen persönlicher Potenzialentfaltung und dem Erfüllen des Organisationszwecks aus deiner Führungsrolle heraus förderliche Entscheidungen zu treffen?
“Menschen sollten in bewusster Verantwortung agieren und nicht auf starre Modelle und Systeme vertrauen. Die zukünftige Organisationsform wird kein kopierbares Modell, sondern ein dynamischer, einzigartiger Fingerabdruck sein.“ – VORSPRUNGatwork
Ausblick
Die Welt ist im Wandel und somit auch jede Organisation und die darin arbeitenden Menschen. Du als Führungskraft, HR-Verantwortlicher, Coach oder Berater baust gerade neue Kompetenzmodelle, Organisationsdesigns, Führungskräfteentwicklungsprogramme oder andere Personalentwicklungsinstrumente für dein Unternehmen?
In dieser Beitrag Serie beschreibe ich die erwähnten „Kompetenzen der Zukunft“ im Einzelnen näher und mache sie mit erlebten Praxisbeispielen aus unseren Befähigungsformaten und Projekten greifbar.
Quellen:
Herling, S. (2022). Kompetenzen der Zukunft (RKW Kompetenzzentrum, Hrsg.; Heft 1-6). RKW Rationalisierungs- und Innovationszentrum der Deutschen Wirtschaft e. V.
Pfläging, N., & Hermann, S. (2015). Komplexithoden: Clevere Wege zur (Wieder)Belebung von Unternehmen und Arbeit in Komplexität. Redline Verlag.
Wohland, G., & Wiemeyer, M. (2012). Denkwerkzeuge der Höchstleister: Warum dynamikrobuste Unternehmen Marktdruck erzeugen. UNIBUCH.
Bert Kruska
VORSPRINGER & Transformationscoach
Wer lebt - stört.