Jeder Ablauf von A-Z oder 1-100 zur Bewältigung einer Aufgabe ist ein Prozess. Prozesse sind unabdingbar. Sie werden von Computern und/oder Menschen berechnet, installiert und ausgeführt. Menschen übernehmen dabei zugewiesene und/oder eingenommene Rollen als MitarbeiterInnen und/oder Führungskräfte.
Und weil es viele sich wiederholende Aufgaben gibt, gibt es auch Standardprozesse, damit nicht jeden Tag eine neue Lösung für dieselbe Aufgabe gefunden werden muss.
Alles easy also? Leider nicht wirklich!
Ich zeige an 3 eigens erlebten Beispielen exemplarisch, warum es nicht reicht, sklavisch Prozesse zu bedienen. In Zeiten dynamischer Märkte und wachsender Komplexität sollten Standards keine Ausbremsung, sondern die Grundlage für mehr Individualität im täglichen Handeln aller Mitarbeitenden sein. Dazu braucht es weniger Gebundenheit an Regeln und mehr Entscheidungsfreiheit entlang von Prinzipien.
Wenn aus Standard Starre wird, und das den Kunden verwirrt!
„Wir sind zu unbeweglich.“ „Das ist nun mal unser Standard.“
Erlebtes Beispiel:
Ein Kunde Z bestellt als Ergebnis aus einem konstruktiven Verkaufsgespräch ein technisches Gerät. Es wird a) mit Verspätung und b) an eine verkehrte Adresse geliefert. Der Kunde erfährt davon durch den „verkehrten“ Empfänger und reklamiert. Die Retoure wird vom Verkäufer für einen anderen Kunden verwendet. Kunde Z erhält mit erneuter Verspätung ein Gerät in anderer Farbe, was nach dem Öffnen der Originalverpackung festgestellt wird. Kunde Z reklamiert erneut beim Verkäufer. Dieser recherchiert mögliche Lösungen und lehnt die Reklamation wegen Öffnung der Verpackung ab. Die Ablehnung wird vom Vertriebsleiter bestätigt: „so sehen es unsere internen Prozesse vor“. Kunde Z kündigt mehrere bestehende Verträge. Es entsteht ein Schriftwechsel mit der Abt. für die Rückgewinnung gekündigter Verträge. Das verkehrte Gerät wird ausgetauscht, das Unternehmen entschuldigt sich, die Kündigung wird zurückgenommen.
Beteiligte Personen: ca. 10, zusätzliche Dauer bis zur Regulierung: ca. 3 Monate, Kosten: ?
Prozesse, die um des Prozesses willen durchgeführt werden, führen zu Verschwendung, unzufriedenen Kunden und versuchter Identifizierung von Schuldigen.
Wenn aus Baustellen Bau-Stopps entstehen und der Kunde Löcher im Lack entdeckt!
„Wir haben zu viele „Baustellen“, und niemand kennt sich aus. Und dann bekommen wir die Schuld zugeschoben, nicht genau genug zu arbeiten.“
Erlebtes Beispiel:
Autoproduktion, aus dem Rohbau kommt die Karosserie in die Behandlung der Oberfläche, damit der zukünftige stolze Besitzer ein fehlerlos lackiertes Fahrzeug erhält. Aber: zu viele Autos müssen bei der Qualitätskontrolle zur Nachbehandlung aus dem Produktionsprozess herausgeholt werden, zu viele kleine Fehler haben sich in die Oberfläche des Fahrzeugs eingeschlichen.
Zur Fehlererkennung gibt es dicke Handbücher mit allen Fehlertypen und wie sie zu behandeln sind; und eine „Musterkarosse“ mit allen Fehlertypen zum Anschauen. Der Prozess ist perfekt beschrieben.
Warum passieren trotzdem so viele Fehler?
In einem agilen Projekt stellen sich folgende Tatbestände heraus:
Die wichtigste Kompetenz zum Erkennen der Fehler ist Erfahrung(!) und kein Handbuch. Die Anzahl der erfahrenen Mitarbeiter ist jedoch begrenzt. Die Taktzeiten sind zu knapp, um sich mit Fehlern zu beschäftigen – also werden diese erst an den Qualitätskontroll-Stationen identifiziert. Telefonische Rückmeldungen zu den verursachenden Stationen am Band sind dann nicht möglich, weil die Mitarbeitenden Schutzanzüge und Handschuhe anhaben müssen. Rückmeldung von Fehlern findet so erst beim nächsten Schichtwechsel statt.
Prozesse führen zu Verschwendung, frustrierten Mitarbeitenden, Störungen des Produktionsablaufs, wenn sie ohne Einbindung der am Entstehungsprozess von Fehlern Beteiligten am grünen Tisch geplant werden.
Wenn über Prozesse prozessiert wird, statt mit den Prozessbeteiligten die richtigen Prozesse zu gestalten!
„Mit diesem Prozess und/oder Standard haben wir sehr gute Erfahrungen gemacht.“
„Mit unserem auch!“
„Mit unserem auch!“
Ein neues Softwareunternehmen wächst aus verschiedenen z.T. seit Jahren bestehenden und bisher auch erfolgreichen Einzelunternehmen mit unterschiedlicher MA-Zahl heran. Es soll modern und fortschrittlich gearbeitet werden – also sind sich alle wohlgesonnen. Und alle sind sich bewusst, dass sie bisher erfolgreich am Markt waren.
Die Geschäftsführung beruft eine Projektmanagementgruppe ein, die entscheiden soll, welche Prozesse für das neue Unternehmen am effizientesten sind. Entscheidungen werden schnell getroffen, aber die Umsetzung in den verschiedenen Bereichen versandet in den meisten Fällen. Erste Mitarbeitende verlassen das neue Unternehmen.
Isolierte Implementierung von Standards und Prozessen durch Methodenexperten blockieren das „Wollen und Dürfen“ in der Organisation, auch wenn alle „Können und Müssen“.
Es braucht einen klaren Organisationszweck, der Identität schafft für alle Mitarbeitenden, und aus dem heraus klare Verantwortlichkeiten entstehen, die zur Übernahme von individueller Verantwortung ermuntern.
Und jetzt?
Manche Unternehmen haben es schon verstanden, viele noch nicht.
Was ich damit meine, möchte ich anhand eines letzten Beispiels zeigen:
Götz Werner hat gern davon berichtet, dass ein älterer Herr einen dm-Markt aufsucht, mit einem Rasierer zur Kasse geht – und dann seine Geldbörse nicht findet. Es folgt ein kurzer Dialog:
„Oh, ich habe meine Geldbörse tief im Koffer, den Rasierer zu Hause vergessen, und muss eilig zur Bahn, was mache ich jetzt nur?“
Kassiererin: „Wissen sie was? Sie kommen nach der Reise wieder vorbei und zahlen dann!“
„Herzlichen Dank, das werde ich machen, sie haben mir sehr geholfen!
„Gern geschehen, gute Reise.“
Götz Werner hat daraus abgeleitet, dass die Kassiererin unbedingt richtig gehandelt hat, ABER „wenn ich daraus einen Prozess ableite, dass alle Kunden, die ihre Geldbörse vergessen, nicht zahlen zu brauchen, gibt es dm bald nicht mehr.“
Was dm in diesem Beispiel bereits verstanden hat, ist, nicht den Zwängen einer Entweder/Oder-Prozesslogik zu folgen. Im Worst-Case sähe das nämlich so aus:
Entweder
Effiziente Prozesse gestalten „auf Teufel komm raus“ ohne Rücksicht auf Mitarbeitenden- und Kunden-Experience
Oder
Eine harmonische aber leistungsfeindliche Wohlfühlatmosphäre leben, in der Konflikte als moralisch verwerflich bewertet werden
Das Beispiel von dm lehrt uns stattdessen, dass es auf ein wertschöpfendes UND ankommt: Prozesse leben(!), die die persönliche Sinngebung und Potenzialentfaltung in der Balance mit dem Organisationszweck halten!
Dazu müssen die Prozesse mit den Menschen gemeinsam gestaltet werden, die mit den Problemen täglich befasst sind, die durch die Prozesse gelöst werden sollen.
In dynamischen Märkten braucht es dazu neben dem Blick auf die Leistungsfähigkeit auch den Fokus auf die Wandlungsfähigkeit. Denn die Prozesse und Standards, die heute ein Problem lösen, können schon morgen selbst das Problem für einen zu verändernden Prozess sein.
Veränderungen offen anzunehmen, wird die neue Beständigkeit!
Transparente Vernetzung und CoCreation vom Kunden über die Marktschnittstellen im Unternehmen bis zu den Entscheidern und der Geschäftsführung ist der Weg dahin.
Dazu wiederum braucht es dauerhafte angstfreie Begegnungsräume zwischen Geschäftsführung, Führungskräften und allen Mitarbeitenden im Unternehmensalltag.
Mensch-zu-Mensch-Beziehungen so zu gestalten, dass jede/r werthaltig beitragen kann, dafür treten wir VorspringerInnen jeden Tag an.
See you 😊
Bert Kruska
Die Überzeugung, dass Menschen sich mit all ihrem Wissen und Können einbringen wollen, wenn Rahmenbedingungen, Haltung und Führung es zulassen, ist die Triebfeder aus der Bert Kruska die Leidenschaft für sein Wirken schöpft. Daraus entspringt eine besondere Art und Weise, mit der sich der Senior Coach und Transformationscoach-Ausbilder immer wieder mit frischer Lust und Neugierde auf die unausweichlichen Spannungsfelder in Organisationen einlässt. Das macht Bert im gemeinsamen Ringen um die beste Lösung zu einem wahren Champion. Wer Bert in einem Workshop erleben darf, vergisst ihn daher so schnell nicht mehr.
Wenn sich Unternehmen im Sinne einer Transformation wirklich tiefgreifend verändern wollen, braucht es ein neues Verständnis von Veränderung. Das bedeutet für uns:
Weniger Veränderung IM bestehenden Organisationssystem und mehr Veränderung AM Organisationssystem.
Weniger Planen, Kontrollieren und Steuern von Veränderung und mehr Raum für das Entstehen lassen von Veränderung.
Weniger einen statischen Zustand A in einen statischen Zustand B überführen und mehr Veränderung als natürlichen, niemals endenden Prozess sehen.
Wer diese Perspektiven einnimmt, fragt nicht mehr nach dem Ende der Transformation, sondern nach dem Ende des Stillstands.
Die schlechte Nachricht:
Transformation bedeutet entgegen der Spielregeln des bestehenden Systems zu handeln. Und das erfordert jede Menge Entschiedenheit, Mut und Vertrauen.
Die gute Nachricht:
Entschieden, mutig und vertrauensvoll neue Wege zu gehen fördert gleichzeitig Entschiedenheit, Mut und Vertrauen in der Organisation.
Ist Veränderung für dein Unternehmen ein notwendiges Übel oder Ausdruck der unternehmenseigenen Lebendigkeit?
Bist du bereit entschieden voranzuschreiten?
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